Der französische Humanist Michel de Montaigne, der unsere Vorstellung davon, was ein „Essay“ sein kann, maßgeblich geprägt hat, vergleicht das Denken mit einem Spiel. Was kennzeichnet ein Spiel? Es lohnt sich, diesem Gedanken mit Blick auf einen gelungenen Essay nachzugehen.
Ein Spiel weckt Neugier, ist kurzweilig und unterhaltsam. Es hebt sich vom Alltag ab, ist originell. Und es macht Spaß.
Diesen Anspruch sollte auch der Essay erfüllen. Dabei erwartet die Jury keine professionellen Texte, sondern vielmehr Essays von Schülerinnen und Schülern. In diesen sollen die Leserin und der Leser neugierig gemacht, unterhalten, ihr oder sein Interesse für das Argument der Verfasserin bzw. des Verfassers geweckt werden. Dieses Vergnügen soll allerdings nicht oberflächlich sein, sondern eine gedanklich anspruchsvolle Anregung. Hier kommt das „Kühne“ bzw. „Riskante“ ins Spiel, das Montaigne dem Denken zuweist. Der Essay als Versuch eines Gedanken- und Sprachspiels, das sich nicht zuerst an schulischen Klausurformen orientiert, sondern neben argumentativen und erörternden Passagen auch freiere Formen, freiere Assoziationen zulässt. Ein Sprachspiel, das die Leserin bzw. den Leser überrascht, erstaunt, sie oder ihn zu Gedanken führt, die nicht für alle sichtbar sind, sondern möglicherweise etwas abseitiger, versteckter. In diesem Zusammenhang kann auch die Form eines literarischen Essays gewählt werden, als literarischer Versuch, der sich etwa einer bestimmten Rollenperspektive oder einer erzählerischen Einbettung des Argumentationsgangs bedient.
Besonders überzeugend ist es, wenn dabei sprachliche und gedankliche Bilder erschaffen werden, die im Gedächtnis haften bleiben und auch nach dem Lesen noch nachwirken. In einem solchen Sinne sollte der Essay originell sein, sich durch Variantenreichtum, Subjektivität, Scharfsinnigkeit und Beobachtungsgenauigkeit auszeichnen. Und im Sinne eines roten Fadens eine Gedankenbewegung entwickeln, an deren Ende vielleicht keine abschließenden Antworten, sondern interessante bzw. bedenkenswerte Fragen stehen.
Ein Essay in diesem Sinne ist keine Kurzform einer Facharbeit oder einer themengebundenen Erörterung. Er lässt sich auch nicht mit einem standardisierten Korrekturraster bewerten. Er geht von eigenen Erfahrungen bzw. eigenen Überlegungen aus und lässt es zu, dass man der Verfasserin bzw. dem Verfasser bei der Entwicklung ihre/seiner Gedanken gewissermaßen über die Schulter schauen kann.
Je sprachmächtiger, je unabhängiger im Urteil, diese Gedanken in Worte gefasst werden, desto überzeugender: Auch dies gehört zum Spiel - als einer Form, die im Sinne des großen US-amerikanischen Essayisten David Foster Wallace eine „Anstiftung zum Denken“ sein will.
In diesem Sinne: Viel Vergnügen beim Schreiben!